Gerechtigkeit : wie wir das Richtige tun

Sandel, Michael J., 2013
BHAK/BHAS Neumarkt
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Medienart Buch
ISBN 978-3-548-37537-3
Verfasser Sandel, Michael J. Wikipedia
Beteiligte Personen Reuter, Helmut [Übersetzer] Wikipedia
Systematik 17 - Klassensätze
Interessenskreis Ethik, Religion
Schlagworte Kant, Immanuel, Marktwirtschaft, Markt, Aristoteles, Gemeinwohl, Rawls, John, Gemeinwohlökonomie, Utilitarismus
Verlag Ullstein Taschenbuchverl.
Ort Frankfurt am Main
Jahr 2013
Umfang 413 S.
Altersbeschränkung keine
Sprache Deutsch
Verfasserangabe Michael J. Sandel. Helmut Reuter
Annotation Quelle: Magazin erwachsenenibldung.at (http://www.erwachsenenbildung.at/magazin/);
Autor: Lorenz Lassnig;
Über lange Zeit war Gerechtigkeit in Österreich kein Thema. Seit einigen Jahren, insbesondere seit der Wirtschafts- und Finanzkrise, erhält sie aber wieder zunehmende politische Aktualität. Lorenz Lassnigg beleuchtet in der vorliegenden Ausgabe des Magazin erwachsenenbildung.at über "Bildungszugänge und Bildungsaufstiege" in einer Sammelrezension drei Publikationen, die sich mit dem Themenfeld "Gerechtigkeit", "Gleichheit" und "Bildung" auseinandersetzen: Rudolf Taschners "Gerechtigkeit siegt - aber nur im Film" (2011), Michaels J. Sandels "Gerechtigkeit. Wie wir das Richtige tun" (2013) und Anthony B. Atkinsons "Ungleichheit. Was wir dagegen tun können" (2016). Dabei geht es ihm auch um die Frage, wie die Diskurse zu "Gerechtigkeit und Bildung" in den unterschiedlichen akademischen und publizistischen Kulturen geführt werden. Die Auseinandersetzung wird in die österreichische Wahlkampfrhetorik um die "neue Gerechtigkeit" eingebettet. Sein Fazit: "Insgesamt sind sich die drei Autoren einig, dass dem Bildungswesen widersprüchliche Konstellationen im Hinblick auf Gerechtigkeit und Gleichheit innewohnen. Sandel und Atkinson begnügen sich jedoch nicht, die destruktiven Komponenten herauszuarbeiten, sondern beschäftigen sich stärker mit den konstruktiven Fragen und Problemen." (Red.)
Die drei Autoren der hier vorgestellten Publikationen behandeln das Thema "Gerechtigkeit im Bildungswesen" sehr unterschiedlich. Während Rudolf Taschner diesbezüglich in einer feuilletonistischen Herangehensweise wiederkehrend auf den positionalen Wettbewerb verweist, widmet Michael Sandel den Problemen der Diversität, der positiven Diskriminierung und dem Telos der Universität ein ganzes Kapitel. Anthony Atkinson behandelt in seinem ausführlichen Lehrbuch u.a. öffentliche Bildungsinvestitionen im Rahmen der Förderung der "Capabilities" nach Amartya Sen als eine notwendige Selbstverständlichkeit, betont aber auch die Grenzen des Beitrages der Bildung zur Gerechtigkeit.
Rudolf Taschners Band (2011) wurde rasch ein Bestseller. Er stieß in ein österreichisches Vakuum vor, wurde mit seiner sehr klaren Botschaft massiv promotet und in der medialen Öffentlichkeit unmittelbar sehr positiv aufgenommen. Durch die nachfolgende "politische Karriere" des Autors und seine zeitweilig starke mediale Präsenz im Wissenschafts- und Bildungsbereich scheint es angebracht, nach den konzeptionellen und wissenschaftlichen Grundlagen seiner Ausführungen zu fragen. Um die Beurteilungsmaßstäbe zu erweitern, wird sein Essayband mit anderen wichtigen wissenschaftlichen Publikationen zum Thema verglichen. Gewählt wurden hierfür die Werke von Michael Sandel und Tony Atkinson, die beide zweifellos "exzellente" internationale State-of-the-Art-Autoren zu diesem Thema sind. Dass der politische/öffentliche Diskurs um die Frage der Gerechtigkeit und Gleichheit generell geführt und vertieft werden muss, wird nicht angezweifelt, gefragt wird in dieser Rezension: Wie man einen politischen/öffentlichen Diskurs um Gerechtigkeit und Gleichheit führen kann, um nicht Gefahr zu laufen, "Schmied und Schmiedl" zu verwechseln.
Vom Gerechtigkeits-Nicht-Diskurs zur "neuen Gerechtigkeit" in Österreichs Politik
"Neue Gerechtigkeit" war einer der zentralen Wahlkampfslogans der "neuen Volkspartei", sie hat es aber - zumindest in dieser expliziten Formel - nicht ins Regierungsprogramm geschafft. Betrachtet man näher, was darunter verstanden wurde, so war die erste inhaltliche Auskleidung durch den Spitzenkandidaten die Bekämpfung des Sozial-Missbrauchs: "Es ist Zeit für eine neue Gerechtigkeit in Österreich. Wir müssen dem Missbrauch unseres Sozialsystems ein Ende setzen und sicherstellen, dass unsere Mittel bei denen ankommen, die sie auch wirklich brauchen" (ÖVP 2017, S. 119). Wenn es auch selbstverständlich erscheint, dass staatliche Mittel dort ankommen sollen, wo sie gebraucht werden, so liegt hinter dieser Formulierung ein fundamentaler Punkt des Gerechtigkeitsdiskurses: Soll es bei den Sozialleistungen um Hilfe für die "wirklich Bedürftigen" gehen (wer definiert das?) oder soll es um Rechte auf Unterstützung gehen? Das zitierte Wahlprogramm enthält eine klare Botschaft in Richtung des Ersteren (was ja auch unter dem Stichwort Armenhilfe in die Diskussion gekommen ist). Recht wird im Wahlprogramm insbesondere im Zusammenhang mit Steuerrecht/MitarbeiterInnenbeteiligung, EU-Recht/Geldpolitik/Steuerflucht/Freizügigkeit, mit Pfandrecht, Asylrecht, Datenschutzrecht, Bürokratieabbau, Investitorenrechten, Rechtsstaatlichkeit in Entwicklungsländern erwähnt. Soziale Aspekte werden im Zusammenhang mit dem Vertrauensschutz beim Pensionsantrittsalter, dem Arbeitsrecht und einem verfassungsmäßigen Recht auf Menschenwürde angesprochen, ein Recht auf soziale Absicherung wird überhaupt nicht adressiert. Dies ist in der Tat ein Thema des "neuen Gerechtigkeitsdiskurses", der entsprechende Aufmerksamkeit verdient.
Das Thema "Gerechtigkeit" bekommt insbesondere seit der Wirtschafts- und Finanzkrise zunehmende politische Aktualität. Es gibt dazu einen weitläufigen wissenschaftlichen und intellektuellen Diskurs, der zuerst in den 1970er Jahren durch das Werk von John Rawls und den Begriff von "Fairness" und dann in den 1980er und 1990er Jahren mit der Radikalisierung neo-liberaler und libertärer Positionen durch die "neue Gerechtigkeitsdebatte" geprägt wurde/wird. In deren Zuge erfolgte eine mehr oder weniger scharfe Differenzierung von Gerechtigkeit und Gleichheit und eine Delegitimierung der Gleichheit1 auf der Basis unterschiedlicher Bedürfnisse und Identitäten (seit kurzem kann man Anzeichen für eine "Renaissance der Gleichheit" feststellen). Ein wesentliches Kennzeichen des "neuen Diskurses" ist die Unterscheidung zwischen distributiver Gerechtigkeit auf der einen Seite und Anerkennung auf der Basis gleicher Menschenwürde auf der anderen Seite.2 Letztere wird von radikal libertären Positionen genutzt, um mit verschiedenen Argumentationen die tatsächliche Unmöglichkeit und/oder konzeptionelle Unsinnigkeit distributiver Gerechtigkeit zu argumentieren.
Über lange Zeit war Gerechtigkeit in Österreich kein Thema. Der "Gerechtigkeits-Nicht-Diskurs" wurde über Jahrzehnte durch die korporatistische Sozialpartnerschaft geprägt, in der die Verbände in ihrer Verflochtenheit mit den Koalitionsparteien die wirtschaftlichen Erträge bzw. Zuwächse nach ihrem Gutdünken und recht erfolgreich "gerecht" verteilten und die vereinbarte Verteilungsformel in ihren jeweiligen Macht- und Einflussbereichen durchsetzen konnten. Parallel wurden die Institutionen des Wohlfahrtsstaates ausgebaut.3 Als die Wachstumsperiode in den 1970er Jahren und dann v.a. in den 1980er Jahren in Schwierigkeiten geriet, wurde begonnen, die Verteilungsfrage zu stellen und die ökonomische und soziale Ungleichheit zu thematisieren (siehe die Pionierarbeiten im Rahmen der AK und des IHS sowie die Verteilungsberichte des Sozialministeriums4). Die Verteilungswirkungen der staatlichen Ausgaben wurden im Auftrag des Finanzministeriums beobachtet und auch die Einkommens- und Vermögensverteilung wird zunehmend dokumentiert.5 Ein tieferer Gerechtigkeitsdiskurs wurde jedoch nicht geführt. Dies mag damit zusammenhängen, dass bisher die Um-verteilungswirkungen der Politik und öffentlichen Haushalte ausreichen, um eine (deutliche) Steigerung der Ungleichheit (zumindest im EU-Vergleich) zu vermeiden (siehe dazu EU-Sozialbericht "Employment and Social Developments in Europe" (ESDE)6 sowie die Bertelsmann-Studien7). Gleichzeitig nimmt 2000 jedoch der reale, politische und ideologische Druck auf die Staatsfinanzen und auf die bestehenden wohlfahrtsstaatlichen Sicherungsinstitutionen unter dem Schlagwort des "Reformstaus" zu, und es gibt auch Ansätze, einen vertieften Diskurs zu fördern.8 Die nähere Zukunft wird zeigen, inwieweit die "neue Gerechtigkeit" eben unter dem Diktat von Einsparungen (Stichwort "Generationengerechtigkeit") die soziale Gerechtigkeit opfern wird.
Aus den verschiedensten Faktoren wird die soziale und gesellschaftliche Unsicherheit genährt, und es ist nicht verwunderlich, dass in dieser Situation das Buch von Rudolf Taschner (2011) über Gerechtigkeit zu einem Bestseller wurde.
Wenn man heute Internet-Suchläufe mit den Stichworten Gerechtigkeit, Österreich und dem Namen des Autors durchführt, so ist das Werk in der anonymen Suche9 bereits einigermaßen nach hinten gerutscht, in der namentlichen Suche zeigt sich die Stärke der Botschaft aus dem Titel des Buches, die gleich zu Beginn nochmals explizit bekräftigt wird: "Es gibt sie nicht auf Erden; die Gerechtigkeit" (Taschner 2011, S. 10). Man könnte polemisch fragen, ob dies vielleicht als kreative pointierte Formulierung für die "neue Gerechtigkeit" zu lesen ist. Es stellt sich dann die Frage, wie gut diese Botschaft untermauert ist. Und hier muss man als LeserIn eine große Enttäuschung erleben. Das Buch beruht auf einem (oder mehreren) "Trick(s)": Der Autor bekennt freimütig seine feuilletonistische Herangehensweise, die weder wissenschaftlich noch systematisch ist und auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt (vgl. ebd., S. 10). Beim Feuilleton handelt es sich um eine (journalistische) Kunstform, mit der bereits Karl Kraus ziemlich gehadert hat. Wikipedia zitiert zutreffend das ABC des Journalismus (hrsg. von Claudia Mast 2004), demzufolge schildert diese Form "in betont persönlicher Weise die Kleinigkeiten und Nebensächlichkeiten des Lebens und versucht, ihnen eine menschlich bewegende, erbauende Seite abzugewinnen"10. Sowohl die Frage "Was ist Gerechtigkeit?" als auch die gesamte öffentliche Darstellung und Rezeption des Buches (die in den vorfindlichen Internet-Einträgen leicht zu sehen ist) suggerieren jedoch das Gegenteil: Ein Wissenschafter, ja sogar ein Mathematiker, erklärt uns fundiert den Begriff der Gerechtigkeit. Dies ist auch der Stil, in dem der Text gehalten ist, es wird uns anscheinend wissenschaftlich etwas erklärt; und dafür wird auch eine Menge an Referenzen angeboten.
Die Abhandlung - sie wird als "Großessay" bezeichnet - ist aber in der Tat feuilletonistisch und sie ist vollkommen einseitig. Die Referenzen beziehen sich nur zu einem Bruchteil auf die State-of-the-Art-Literatur zur Gerechtigkeit und, soweit sie dies tun, beziehen sie sich selektiv auf jene Werke und Positionen, die die Aussage des Titels vertreten; andere Auffassungen werden schon im Ansatz erstickt. So legen bereits der Titel wie auch die "zentrale Botschaft" (vgl. Taschner 2011, S. 10) nahe, der Diskurs würde über "die Gerechtigkeit" in einer Ja-/Nein Form geführt werden ("gibt" es sie oder "gibt" es sie nicht?), während die wissenschaftliche und politische Herausforderung darin besteht, ein differenziertes Verständnis der verschiedenen Herangehensweisen und Begrifflichkeiten zu entwickeln und die direkten und indirekten politischen Konsequenzen der verschiedenen Positionen auszuleuchten. Die LeserInnen bekommen damit nicht ein Bild des Diskurses um Gerechtigkeit und Gleichheit geboten und es gibt auch keine explizite Argumentation zur Begründung der dem Autor sympathischen anti-egalitären Position, sondern es wird umgekehrt diese Position als scheinbar einzig haltbare hergeleitet und dies an verschiedensten Phänomenen illustriert (Generationen, Gesetz, Geschichte, Geschäft, staatliche Gestaltung bis zu Gewissen und Gnade).
Vergleicht man Materialien aus dem deutschen Diskurs um die "neue Gerechtigkeit", die im Netz leicht verfügbar sind, so wurde dort bereits 10 Jahre früher ein umfassendes Bild bis auf die Ebene von Unterrichtsmaterialien und Handreichungen dafür gegeben (siehe Goergen 2010). Dieses Bild zeigt überdies einen gewaltigen argumentativen Unterschied zur Perspektive auf die "neue Gerechtigkeit" im zitierten Wahlprogramm. In seiner Zusammenfassung der politischen Schlussfolgerung der pragmatischen Non-Egalitaristen fasst Klaus Goergen (2006, S. 5) bereits die Argumentation von Taschner in einem Satz zusammen: "Angesichts der Kontingenz menschlichen Lebens ist Gleichheit ohnehin nie so zu realisieren, dass sie zu gerechten Verhältnissen führt. Wir können sie daher als Maßstab für Gerechtigkeit getrost entbehren."
In der weiteren Argumentation analysiert Goergen das Gesellschaftsbild der Non-Egalitaristen und die Konsequenzen für den Sozial- und
Rechtsstaat.11
Das Buch von Michael J. Sandel (2013) kann man in inhaltlicher Hinsicht als das gerade Gegenteil zu Taschners sehen; obwohl es im Original bereits 2009 erschienen ist, wird es von Taschner nicht erwähnt. Michael J. Sandel ist Philosoph und damit disziplinär für Gerechtigkeit "zuständig", in diesem Sinne ist seine Abhandlung "wissenschaftlich". Er stellt die Frage, was Gerechtigkeit bedeutet (vgl. Sandel 2013, S. 12), nicht was Gerechtigkeit ist, und im Sinne eines diskursiven Verständnisses werden die verschiedenen Zugänge zu Gerechtigkeit und die damit jeweils verbundenen Probleme dargestellt und abgewogen. Es sind das drei Leitgedanken oder Ansätze: "die Mehrung des Gemeinwohls, die Achtung vor der Freiheit, und die Förderung der menschlichen Tugenden" (ebd., S. 13), wobei in der Verbindung von Tugend mit staatlicher Politik direkt Werturteile involviert sind, was laut Sandel eben besonders problematisch und umstritten ist. Im Gesamtaufbau beginnt Sandel am Beispiel überhöhter Preise bei besonderen Notlagen mit den Problemen des Marktes und endet beim Gemeinwohl, während Taschner mit einer kryptischen Relativierung der Gleichheit beginnt und beim (individuellen) Gewissen und der (jenseitigen) Gnade endet. John Rawls, der den Egalitarismus auch gegenüber dem Konzept der Meritokratie plus Chancengleichheit begründete, wird von Taschner auf vier Seiten behandelt und in zwei Absätzen (vgl. Taschner 2011, S. 30) "erledigt", während er bei Sandel in einem der zentralen Kapitel über dreißig Seiten lang diskutiert wird. Sandel endet mit Milton und Rose Friedmans Bibel der Reagan Jahre: "Das Leben ist nicht gerecht" - führt demgegenüber aber ins Treffen, dass daraus eben nicht folge, dass dies auch so sein soll (vgl. Sandel 2013, S. 226f.). Entsprechend dem Anti-Egalitarismus ist bei Taschner der Neid ein zentraler Angriffspunkt für die Verbindung von Gerechtigkeit und Gleichheit, während es bei Sandel von Beginn an die Gier ist, die für das gesellschaftliche Zusammenleben in die Schranken gewiesen werden
muss.
Taschner braucht etwas über zweihundert Seiten, um seine These zu illuminieren, es gäbe auf Erden keine Gerechtigkeit und man müsse - nach der "einzig gültigen Antwort" (Taschner 2011, S. 121) Walter Euckens von 1948 - den Markt mit "vollständigem Wettbewerb" walten lassen, solange "niemand darben muss" (für das Eucken-Zitat gibt es keinen Literatur-Nachweis, wohl aber findet es sich exakt in Wikipedia). Damit ist er fertig und positive Alternativen braucht er nicht mehr zu suchen. Sandel baut seine Argumentation entlang der Leitfragen auf und zieht dort eine grundlegende Unterscheidungslinie, wo die Tugend und das gute Leben ins Spiel kommen: Er sieht die (vertragstheoretischen) Ansätze, die Gerechtigkeit unter Wahrung staatlicher Neutralität herstellen wollen (Kant, Rawls: teleologische, auch utilitaristische Vorstellungen widersprechen der Freiheit), als nicht zureichend und versucht Lösungen zu finden, die die Freiheit auch bei "moralischer Politik" wahren können. Dem widmet sich denn auch die zweite Hälfte seines Buches. Argumentative Kernpunkte, welche über rationale, vertragstheoretische Ansätze hinausgehen, sind erstens die Gegenüberstellung von narrativer und voluntaristischer Persönlichkeit und zweitens begründete " 2000 Verpflichtungen der Solidarität und Mitgliedschaft" (Sandel 2013, S. 307). Das Buch endet mit vier Themen für "eine neue Politik des Gemeinwohls" (ebd., S. 360-367): Dienst an der Gemeinschaft, moralische Grenzen der Märkte, staatsbürgerliche Tugend, Politik des moralischen Engagements.
In einer Hinsicht scheinen sich die Bücher Taschners und Sandels nicht so stark zu unterscheiden: Beide sind Bestseller. Ich habe das philosophische Buch von Sandel (nach längerer Zeit des ehrfürchtigen "Abliegens") in zwei Tagen verschlungen, da es für mich für viele offene Punkte klärend war (bis hin zur Frage, ob Lügen "erlaubt" sind, die die österreichische Politik kürzlich ein wenig beschäftigte; vgl. Sandel 2013, S. 177-192: Sex, Lügen und Politik). Das feuilletonistische Großessay von Taschner zeichnet sich beim zweiten Lesen durch hintergründige Belehrung und in vielen Punkten kryptische Argumentationen aus, nicht selten gibt es auch "untergriffige" Seitenhiebe (nach dem Muster, die Beschäftigung mit dem Gemeinwohl direkt ins "Reich der Hölle" Kim-il-Sungs zu verweisen; siehe auch Taschner 2012).
Tony Atkinson, der Anfang 2017 verstorben ist, begann seine Arbeit in den 1970er Jahren bereits jenseits des konzeptionellen Horizonts, den das Feuilleton von Taschner erst 2011 (wenn auch mit Hilfe des Eucken-Zitats von 1948) erreicht hat: die ökonomische Theoretisierung und empirische Analyse von Ungleichheit und Armut auf dem Hintergrund von Marktimperfektionen.12 Sein Buch über die Ungleichheit (2016) ist das Credo eines fünfzigjährigen engagierten und überaus redlichen Wissenschafterlebens und enthält die ausführliche Begründung eines Programmes von politischen Vorschlägen (nicht zur Vermeidung, aber) zur Verringerung der Ungleichheit der Einkommensverteilung. Diese ist seit den 1980er Jahren trotz insgesamt steigenden Reichtums (wieder) beträchtlich angestiegen, was auch Auswirkungen auf die Armut hat (dass "niemand darben muss", wird man wohl in Frage stellen müssen) - die Beziehung zwischen dem gesellschaftlich erreichten Reichtum und seiner Verteilung ist also wichtig für die Gerechtigkeit.13
Das Buch wendet sich explizit an LaiInnen und enthält viele erklärende und strukturierende Merkmale eines Lehrbuchs. Die Argumentation ist jedoch diskursiv und alles andere als belehrend, "ich gebe Ihnen ein Zeichen, wenn ich vom Mainstream abweiche. Ich möchte betonen, dass ich meine Ansätze nicht unbedingt für besser halte, aber doch der Meinung bin, dass es mehr als nur eine Wirtschaftstheorie gibt" (Atkinson 2016, S. 12). Es besteht aus drei Teilen: Diagnose, Vorschläge, Gelingen/Einwände und sein Autor teilt die Auffassung, dass die Ungleichheit "die größte Bedrohung der Welt" sei (ebd., S. 7). Eine konzise Einleitung spannt den Rahmen der Argumentation auf und fasst die wesentlichen Punkte zusammen. Die Ungleichheit wird nicht als isoliertes Problem gesehen, sondern in den Gesamtrahmen von Politik und Wirtschaft eingebettet - das bedeutet, das Zusammenspiel von Arbeits- und Kapitalmarkt wie auch von fiskalischer Umverteilung mit Wettbewerbs- und Arbeitsmarktpolitik zu sehen und dabei die verschiedenen AkteurInnen zu berücksichtigen. "In jedem Fall spielen die Marktmacht und die Frage, wer über sie verfügt, eine entscheidende Rolle" (ebd., S. 10). Dabei werden zunehmende Konzentrationen bei den ArbeitgeberInnen und multinationalen Konzernen zu Lasten der ArbeitnehmerInnen, KundInnen und Regierungen festgestellt (2014 wurde immerhin der Nobelpreis für die Zähmung mächtiger Unternehmen vergeben).
Dieses Buch bleibt also nicht bei der "einzig gültigen Antwort" Euckens stehen, derzufolge im "vollständige[n] Wettbewerb [] alle Bürger [] die Wirtschaft lenken" (zit.n. Taschner 2011, S. 121f.), sondern analysiert die dieses Ideal verzerrenden Mechanismen und macht Vorschläge zum Ausgleich. Während Taschner den Gini-Index als Verteilungsmaß erklärt, um prophylaktisch die Möglichkeiten der Messung von Gerechtigkeit durch "eine Kennzahl allein" (was ohnehin niemand beansprucht) zu relativieren (vgl. Taschner 2011, S. 158-164), analysiert Atkinson in Kapitel 1 seiner Diagnose mittels verschiedener Indikatoren und verfügbarer Literatur die empirische Entwicklung von Ungleichheit und Armut.14 Dies wird in Kapitel 2 durch eine international vergleichende historische Analyse vertieft, um an die Erklärung der Veränderungen heranzukommen - als wesentlicher Faktor der "Ungleichheitswende" nach den 1980er Jahren stellt sich die (neoliberale) Politik heraus. Umgekehrt werden dann in Kapitel 3 die Faktoren und Spielräume analysiert, die die Marktkräfte trotz ihrer starken Wirkungen in der politischen Ökonomie offen für Interventionen lassen (Globalisierung, Technologie, Finanzsektor, Lohnpolitik, Gewerkschaften, Steuern und Transfers). Entsprechend der Breite der Analyse beziehen sich die Vorschläge in den Kapiteln 4 bis 8 auf die fünf Bereiche: Technologie und Gegenmacht, Beschäftigung und Lohn, Kapital und Eigentum, Steuerprogression sowie soziale Sicherung. Ein interessanter Punkt ist die (skeptische) Auseinandersetzung mit der Frage des Grundeinkommens, das in Abwägung zwischen unterschiedlichen Systemen sozialer Sicherung sehr differenziert diskutiert wird (vgl. Atkinson 2016, S. 273-287; vgl. auch Brandolini/Jenkins/Micklewright 2017, S. 18).15
Ein beträchtlicher Teil des Buches beschäftigt sich mit Einwänden und Gelingensbedingungen, wobei drei Themen/Probleme fokussiert werden: schwächeres Wachstum, Wirkungen der Globalisierung und fiskalische Probleme/Leistbarkeit am Beispiel Großbritanniens.
Zusammenschau und Aussagen zum Bildungswesen
Insgesamt sind alle drei Bücher lesenswert, das erste, um zu sehen, dass ein feuilletonistischer Zugang zum Thema eher zu Irreführungen beiträgt als zur Klärung, wenn es auch viele interessante Belehrungen über alles Mögliche enthält.16 Der sehr wirksame zynische Titel und seine Botschaft werden nur scheinbar belegt und der dahinter liegende anti-egalitaristische Grundansatz wird im Vergleich zu den theoretischen und konzeptionellen Alternativen nicht offenlegt. Die beiden anderen Bücher zeigen eindrucksvoll aus unterschiedlichen Disziplinen, was eine fundierte wissenschaftliche Analyse zu leisten vermag und wie spannend, erfrischend und wenig belehrend dies dargeboten werden kann.
Im Hinblick auf die Behandlung der Gerechtigkeit im Bildungswesen besteht auch ein interessanter Kontrast, indem Taschner wiederholt den immer wiederkehrenden positionalen Wettbewerb als einziges Phänomen hervorhebt, während Sandel sich in einem ganzen Kapitel mit den Problemen der Diversität, der positiven Diskriminierung und dem Telos der Universität auseinandersetzt. Atkinson setzt einerseits die Bedeutung von öffentlichen Bildungsinvestitionen im Rahmen der Förderung der "Capabilities" nach Amartya Sen als selbstverständlich voraus, betont aber auch die Grenzen des Beitrages der Bildung zur Gerechtigkeit, indem er die Ergebnis(un)gleichheit gegenüber der Chancengleichheit aufwertet und in einer seiner Hauptthesen für den "Weg nach vorn" (Atkinson 2016, S. 385f.) ausdrücklich entgegen dem Mainstream hervorhebt: "Die Ursachen steigender Ungleichheit sind sowohl auf den Kapital als auch auf den Arbeitsmärkten zu finden; Abhilfe lässt sich nicht allein mit Bildung und Ausbildung schaffen".
Insgesamt sind sich die drei Autoren einig, dass dem Bildungswesen widersprüchliche Konstellationen im Hinblick auf Gerechtigkeit und Gleichheit innewohnen, Sandel und Atkinson begnügen sich jedoch nicht, die destruktiven Komponenten herauszuarbeiten, sondern beschäftigen sich stärker mit den konstruktiven Fragen und Problemen.
Im Hinblick auf die zweifellos wichtige Führung und Vertiefung eines öffentlichen Diskurses um die Fragen der Gerechtigkeit und Gleichheit ist offensichtlich: Man geht besser zum Schmied als zum Schmiedl. Der Diskurs wird mit Sicherheit eher durch eine klare und offene Argumentation seitens fundierter WissenschafterInnen befördert als durch hintergründig feuilletonistische Ausflüge eines fachfremden Akademike 2000 rs, der dafür seine professorale Reputation in die Waagschale wirft.
Literatur
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Brandolini, Andrea/Jenkins, Stephen/Micklewright, John (2017): Tony Atkinson and His Legacy. IZA Discussion Paper No.10869 (Juni). Bonn: IZA-Institute of Labor Economics. Online im Internet: http://ftp.iza.org/dp10869.pdf [Stand: 2018-06-07].
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https://text.derstandard.at/2000076298440/BudgetpolitikGerechtigkeit-in-der-ist-Ansichtssache [Stand: 2018-06-07].
Goergen, Klaus (2006): Teilen oder helfen? Zum Streit um die richtige Gerechtigkeit. Online im Internet: https://www.lehrer-online-bw.de/site/pbs-bw/get/documents/KULTUS.Dachmandant/KULTUS/Seminare/seminar-weingarten/pdf/Teilen_oder_helfen.pdf [Stand: 2018-06-07].
Goergen, Klaus (2010): Zugänge zur Ethik: allgemeine und angewandte Ethik im Überblick. Münster: LIT Verlag.
Graf, Monika (2017): Soziale Gerechtigkeit: EU-Länder arbeiten sich langsam aus der Krise. Studie der Bertelsmann-Stiftung sieht Licht und Schatten in Österreich. In: OÖNachrichten vom 17. November 2017. Online im Internet: http://www.nachrichten.at/nachrichten/wirtschaft/Soziale-Gerechtigkeit-EU-Laender-arbeiten-sich-langsam-aus-der-Krise;art15,2736989 [Stand: 2018-06-07].
Großegger, Beate (2015): Soziale Gerechtigkeit. Zwischen Verdrängungswettbewerb und solidarischer Gesellschaft. Online im Internet: https://www.jugendkultur.at/wp-content/uploads/Dossier_Soziale_Gerechtigkeit_Gro%C3%9Fegger_2015.pdf
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Weiterführende Links
Einkommensstatistiken von Statistik Austria:
https://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/soziales/index.html
ESDE - Employment and Social Developments in Europe: http://ec.europa.eu/social/main.jsp?pager.offset=0&advSearchKey=esdereport&mode=advancedSubmit&catId=22&policyArea=0&policyAreaSub=0&country=0&year=0
Social Inclusion Monitor (SIM) der Bertelsmann-Stiftung: https://www.social-inclusion-monitor.eu/downloads/#c269
Vermögens- und Konsumerhebungen der Nationalbank:
https://www.oenb.at/Publikationen/Statistik/Statistiken-Sonderhefte/2016/sektorale_vgr_1996_2015.html
Bemerkung Katalogisat importiert von: Rezensionen online open (inkl. Stadtbib. Salzburg)
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